Erinnerungskultur – Kreativität, Bildung und Gedächtnis

Die Kultur- und Kreativbranche speist zu großen Teilen unsere Erinnerungskultur. Historische Serien, Filme und Games arbeiten mit wissenschaftlichen Fakten, detailgetreuen Darstellungen und geschichtlichem Wissen. Das macht sie nicht weniger wertvoll als das Geschichtsbuch. Höchste Zeit, Bildung aus den Fängen der Schulbänke, Hörsäle und Bibliotheken zu befreien und auf die Kultur insgesamt auszuweiten. In den Händen der Kreativschaffenden liegt mehr als unsere Unterhaltung. Sie beeinflussen, was wir erinnern und wie wir es in Zukunft erinnern werden. Im Artikel widmen wir uns den Verschränkungen von Erinnerungskultur und Kreativbranche.

Erinnerungskultur – Kreativität, Bildung und Gedächtnis

Es mag den Einschränkungen während der Pandemie geschuldet sein, dass die Kultur- und Kreativwirtschaft (KuK) in den letzten Jahren an Bedeutung und Sichtbarkeit gewonnen hat. Corona hat uns auf die harte Tour lernen lassen, was eine Gesellschaft ohne Kultur- und Kreativangebote bedeuten würde. Dadurch sind die KuK und ihre Teilbereiche näher zusammengerückt, haben sich gegenseitig stärker unterstützt und sind neue Bündnisse wie z.B. in der Interessenvertretung eingegangen. Es hatte aber auch politisch einen Impact, der sich nicht zuletzt im Staatsziel Kultur im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung ablesen lässt.

Politisch sehr aktuell war gleich zu Beginn des Jahres auch die Verknüpfung von Bildung und Kultur. Im Rahmen der Diskussion über neue Einschränkungen aufgrund der Verbreitung der Omikron-Variante wurde im Vorfeld sehr klar kommuniziert, dass Bildungseinrichtungen offen bleiben würden. Kultureinrichtungen blieben davon jedoch unberührt, da sie politisch als Freizeiteinrichtungen behandelt werden. Ein Fehler, wie der Deutsche Kulturrat noch vor dem ersten Bund/Länder-Corona-Treffen des Jahres 2022 klar machte.

Kultureinrichtungen und -veranstaltungen seien Orte des Lernens und der Bildung und dürften deshalb keinesfalls wieder geschlossen werden, solange sie sich an die Hygienevorgaben hielten. Die Politik folgte dieser Einschätzung, auch wenn sie den Begriff Bildungseinrichtungen selbst nicht verwendete. Aber ein weiterer Kultur-Shutdown blieb uns bisher erspart.

Kultur = Bildung?

Ein Teil unserer Erinnerungskultur: die Holocaust-Gedenkstätte in Berlin – © Andrea Nardi

Das Thema Bildung spielt in der Kultur- und Kreativbranche schon immer eine wichtige Rolle. Jedoch wurden Bildungsangebote i.d.R. auch als solche gekennzeichnet. Eine Dokumentation schauen wir uns nicht aus reinem Zeitvertreib an, sondern weil wir etwas lernen oder erfahren möchten. Das gleiche gilt für den Besuch eines Museums oder wenn wir explizit zum Lernspiel für Kinder greifen. Dass Kulturangebote und Creative Content insgesamt zu unserer Bildung beitragen bzw. als Bildungsangebote gesehen werden können, wird in der breiten Öffentlichkeit erst seit Kurzem verhandelt.

Tatsächlich reicht die Einflussnahme der Kultur- und Kreativbranche sehr viel tiefer, als uns das womöglich bewusst ist. Ein Stichwort ist hier Erinnerungskultur. Gemeint sind mit dem Begriff Praxen der kollektiven Erinnerung an längst vergangene Ereignisse oder Epochen, also alle bewussten Formen des bewussten Erinnerns einer Gesellschaft, wie Christoph Conrelißen hier ausführt. Wir waren weder dabei noch geboren als das Römische Reich herrschte, die Industrialisierung stattfand oder während des dritten Reichs mit dem Holocaust das wohl furchtbarste Verbrechen der Menschheit begangen wurde. Dennoch haben wir nicht nur eine vage Vorstellung von diesen historischen Ereignisse, sondern auch konturenscharfe Bilder.

Die Informationen für diese Bilder erhalten wir nicht nur aus Museen, Gedenkstätten und Schulbüchern. Sehr viel prägender für uns sind die historischen Darstellungen in Serien, Filmen und Games. In ihnen wird Vergangenes wieder lebendig und sie vermitteln uns einen Eindruck der damaligen Ästhetik und Lebensweisen.

Kreativität und historische Korrektheit

Dem Stoff für die Film- und Serienproduktionen sind kaum Grenzen gesetzt. “Mad Men” führt uns ins New York der 60er Jahre, “Downton Abbey” zu einer englischen Adelsfamilie zu Beginn des 20. Jahrhunderts und “Versailles” ins barocke Frankreich zur Zeit des Sonnenkönigs Ludwig XIV. Was sie alle eint ist der Anspruch an eine möglichst detailgetreue Darstellung der jeweiligen Zeit. Und das nicht nur hinsichtlich der Ästhetik, also in den Kostümen und der Architektur beispielsweise, sondern auch im Sinne der Gesellschaftsstrukturen und der geschichtlichen Ereignisse zu der Zeit. So taucht z.B. in “Downton Abbey” auch die Spanische Grippe als Akteurin auf. Auch in deutschen Produktionen wie “Babylon Berlin” geht es um eine möglichst genaue Reproduktion des Berlins der 1920er Jahre. Selbst im neu komponierte Musikstück “Zu Asche, Zu Staub” wird ein längst verblasster Zeitgeist mit neuen Farben zum leuchten gebracht.

Der Anspruch auf historische Korrektheit führt zu einem spannenden Austausch zwischen Historiker*innen und Kreativschaffenden. Letztere benötigen umfangreiches Wissen, damit die Darstellung an keiner Stelle mit der historischen Realität bricht, was den Erfolg schmälern könnte. Denn Fans solcher Sendungen können durchaus picky werden, wenn bestimmte Details nicht ganz korrekt sind, wie uns Andrea Peters, Geschäftsführerin der Theaterkunst GmbH, im Podcast erzählt. Es könne ausreichen, dass ein Abzeichen an der Uniform nicht dem Rang des gespielten Charakters entspricht, um eine Serie oder einen Film schlicht abzuschalten. Deshalb befinden sich viele Originalstücke im Besitz des Kostümverleihs, die als Vorlage dienen.

Erinnerungskultur und Games

Auch Games gelten mittlerweile als Kulturangebote mit Bildungsaspekt und auch sie speisen das kollektive Gedächtnis und sind Teil unserer Erinnerungskultur. Besonders greifbar wird das in Kriegsspielen, wo das Spielgeschehen an möglichst realen Schauplätzen stattfindet oder sogar historische Ereignisse und Kämpfe nachgestellt werden. Auch hier ist eine detailgetreue Darstellung Uniformen und Waffen sowie der historische Kontext in den letzten Jahren immer bedeutsamer für das Spielerlebnis geworden.

Am Beispiel der Kriegsspiele lässt sich sehr gut zeigen, wie Games Teil unserer Erinnerungskultur sind, diese gleichzeitig aber auch prägen und verändern. Denn an der Wahl der Kriege und Schlachten, auf die in den Games Bezug genommen wird, wird deutlich, was in unserer Gesellschaft wichtig ist und was erinnert werden soll und was eher nicht. Sehr präsent ist beispielsweise der Zweite Weltkrieg. Wie kaum ein anderes Ereignis prägt er unsere Erinnerungskultur. Und so kommt er auch sehr viel häufiger in Games (aber auch in Filmen, Serien und Büchern) vor als z.B. der Erste Weltkrieg oder geschweige denn der 30 Jährige Krieg.

Wirklich spannend wird Creative Content mit historischem Inhalt dann, wenn wir sie nicht nur als Reenactment der Vergangenheit, sondern auch als Spiegel der Gegenwart begreifen. Jede historische Darstellung gibt auch Auskunft über die Zeit, in der sie entstanden ist. In den Kriegsspielen lässt sich das an der Wahl des auftretenden Feindes zeigen, wie Eugen Pfister in seinem Text für die Stiftung Digitale Spielekultur herausstellt. War es zur Zeit des Kalten Krieges vor allem die Sowjetunion, die es in US-amerikanischen Produktion zu bekämpfen galt, waren es nach dem 11. September 2001 vermehrt terroristische Organisationen.

Die Produktionen der großen Studios wie “Battlefield 5” oder “Call of Duty: WW II”, die beide zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielen, steht die realistische Darstellung im Dienste des Spielerlebnisses und damit auch des wirtschaftlichen Erfolges. Hier geht es nicht bewusst um einen Beitrag zur Erinnerungskultur. Das ist bei dem Spiel “Through the darkest of Times” des deutschen Studios Paint Bucket Games anders. In dem Game schließen sich die Spielenden dem Widerstands gegen das Dritte Reich an. In den Darstellungen wird sehr viel sensibler mit der historischen Darstellung und geschichtlichem Wissen umgegangen, da sich das Spiel ganz bewusst als Teil der deutschen Erinnerungskultur begreift. Hier fallen Lernen und Spielspaß tatsächlich zusammen.

Kommentar auf das Hier und Jetzt

Ein ganz anderes Beispiel ist die Netflix-Serie “Bridgerton”. Die Serie spielt im England des 19. Jahrhunderts, was sich z.B. in der Mode und auch in der Darstellung des Adels spiegelt. Doch an einer entscheidenden Stelle haben sich die Produzent*innen ganz bewusst gegen eine realistische Darstellung der Vergangenheit entschieden: die Schauspieler*innen wurden “colorblind” gecasted, es wurde also bewusst nicht auf Hauttöne geachtet. Im Ergebnis sind Simon Basset (Regé-Jean Page), der männliche Protagonist der Serie, und auch die Queen (Golda Rosheuvel) mit People of Color besetzt, was damals (und ja ehrlich gesagt auch heute noch) undenkbar gewesen wäre. Dieser Bruch mit der historischen Realität ist ein klarer Kommentar auf die aktuell geführten Kämpfe um Gleichberechtigung und gegen Rassismus. Auf die Frage, was erinnert werden soll und was nicht, gibt die Serie ein klares Statement ab. 

Erinnerungen kommen nicht aus dem Nichts. Sie entstehen immer kulturell. Deshalb ist die Kultur- und Kreativbranche ein so bedeutender Teil unserer Erinnerungskultur und “gestaltet” diese täglich mit. Kreativschaffende haben immer die Möglichkeit, auf unsere Erinnerungskultur einzuwirken, sie zu kommentieren und sie zu verändern. Was wir erinnern und was nicht, liegt spannenderweise auch in den Händen der Kreativschaffenden, deren Produkte wir konsumieren. Und da soll nochmal jemand behaupten, Kultur und Creative Content hätten nichts mit Bildung zu tun.


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